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Kalte Winde, warme Menschen

Autorenbild: Talent im Land Alumni e.V.Talent im Land Alumni e.V.

Von Kiril | Reiseziel: Sankt Petersburg, Russland


Lass deinen Gedanken freien L: Kalter, salziger Wind umfasst mich in einer herzlich rauen Umarmung, als ich meine ersten Schritte auf russischer Erde beschreite. Mütterchen Russland hat ihre ganz eigene Art Gäste zu empfangen. Ich ziehe mich und meine zwei Koffer, langsam durch Pulkovos Hallen, Sankt Petersburgs Tor zur Welt. An der Passkontrolle nimmt ein uniformierter, kantiger Mann nüchtern meine Papiere entgegen. Er spricht meinen Namen direkt korrekt aus. Ungewohnt, aber angenehm. Ich hatte mich fast schon an die falsche Aussprache gewöhnt. "Ziel und Dauer des Aufenthalts?" "Studium, 6 Monate“, sage ich. Dabei ist für mich viel mehr. Es ist eher eine Rückkehr. Eine Pilgerfahrt an die Wurzeln eines uralten Baumes. Doch ich schweige. Es würde nur Antworten auf Fragen erfordern, die ich mir selbst schon lange stelle. Das stumpfe Geräusch des Stempels und ein teilnahmsloses: "Sie dürfen", lassen mich passieren. Endlich schreite ich durch die Pforten, die Türen, zu etwas, das für mich lange rein abstrakter Natur war, sich aber nun mit jedem meiner Schritte immer fester in meiner Realität etabliert. Die fremde Heimat in der Ferne, die tiefen Wurzeln des Diaspora-baumes, den meine Familie mit jeder migrierenden Generation tiefer wachsen ließ. Das Gefühl, dass mich mein Leben lang begleitet hat, wird greifbar, ich kann es sehen, hören, fühlen und atmen. Es ist alles surreal und gleichzeitig unglaublich vertraut. Ich laufe durch lichtbeflutete, endlos lange Gänge. In der Ferne verschwommene Zeichen werden zu Wörtern, diese zu Sätzen und dann zu mir bekannten Stimmen, die ich davor im Alltag meist nur über eine mediale Brücke wahrnehmen konnte. Die Sprache, die mich immer zum „Anderen“ gemacht hat, ermöglicht mir jetzt dazuzugehören. Das, was mich früher ausgegrenzt hat, öffnet mir nun die Türen. Ich verlasse den Flughafen und schaue mich um. Hohe hellgraue Betonfassaden umgeben mich. Hunderte dunkle rechteckige Augen, schauen mich reglos an. Fast wie in Mannheim denke ich mir und lächle. In der Distanz sehe ich wie eine russische Flagge, zögerlich im Wind tanzt und sehe ein, dass dies ganz sicher nicht mehr der graue, vertraute Hauptbahnhof ist. Mein Gedankengang wird unterbrochen von einem Mann mittleren Alters, der mich mit einer rauen aber gleichzeitig angenehm melodischen Stimme anspricht: „Geehrtester, brauchst du ein Taxi?“ Sein Gesicht ist glatt rasiert, doch die weißen Stoppeln seines Bartes sind nicht zu verstecken. Es ist Anfang Februar im Norden Russlands und doch trägt er eine Kombination aus Kleidungsstücken, die ich in Deutschland spätestens Ende Oktober tragen würde. Seinen Kopf bedeckt eine sogenannte „English cap“, die mich sehr an die Schirmmützen erinnert, die russische Offiziere in den alten sowjetischen Filmen trugen, die wir uns mit meiner Großmutter anschauten. Er steht vor einer alten Lada, hinter deren Windschutzscheibe man eine orthodoxe Heiligenikone hängen sehen kann. Wahrscheinlich die des Heiligen Nikolaus, der immer das Auto meines Großvaters Kolja behütete. Seine müden, in tiefe Falten versunkenen Augen erinnern mich auch an ihn. Der Fahrer wartet auf meine Antwort. „Nein, danke brauche ich nicht,“ lüge ich, „aber alles gute Ihnen“ und verabschiede mich mit einer Hand auf der Brust, einer leichten Verbeugung und einem ehrlichen Lächeln. Ich gehe ein paar Schritte weiter und bestelle mein Taxi, online. Leider weiß ich nur zu gut wie die Preise am Flughafen willkürlich hochgedreht werden, vor allem für mich, der nicht wie ein Einheimischer wirkt, mit meiner übertrieben dicken Winterjacke, langen Haaren, rotem Bart, Ohrringen und verträumt verlorenen Blick. Der Mann wird hier sicher jemand anderen finden. Mein Taxi erreicht mich recht schnell, der Fahrer steigt aus und hilft mir mit meinem Gepäck. Er trägt eine schwarze, leicht schimmernde Lederjacke und dunkelblaue zerschlissene Jeans, die ihre eigenen Geschichten erzählen könnten. Sein rundes Gesicht und kurze schwarzen Haare sehen gepflegt aus. Auch er ist rasiert, hat sich dabei sichtlich bemüht und das nicht grundlos, wie ich später erfahren werde. Auf der Fahrt ist er gesprächig, fragt mich, was ich hier mache, ob ich hier schonmal war, woher ich gerade komme. Er hat einen kräftigen kaukasischen Akzent im Russischen, wie ich ihn sonst nur aus dem Fernsehen kenne, wo dieser meist parodiert wird. Er antwortet, dass er hier nur zum Arbeiten ist, ursprünglich aus Dagestan im östlichen Kaukasus kommt, aber eigentlich ein Kumyk ist. Aus einer so diversen Region, dass in einem benachbarten Dorf bereits eine komplett neue Sprachfamilie gesprochen werden kann. Mit einer alten und reichen Geschichte und herzlichen, gastfreundlichen Menschen. Doch eben diese sind in Russland starker Diskriminierung und negativen Stereotypen ausgesetzt. Sie müssen sich anpassen. Bärte werden von denen, die in den wohlhabenderen, mehrheitlich russischen Städten arbeiten, nicht getragen. "Um die Kunden nicht zu verschrecken, wie er mir sagt." Negative Stereotype über Muslime sitzen tief verankert in der Gesellschaft, trotz der Jahrhunderte des friedlichen Zusammenlebens in einem gemeinsamen Land. Russland wird oft, vor allem im Westen, als Monolith gesehen, als ein Staat mit einer Nation und einem Glauben. Doch dies ist eine grobe Vereinfachung und eine tragische Ausblendung der knapp 185 ethnischen Gruppen, zahlreichen Muslimen, Buddhisten und Juden, die schon seit Jahrhunderten auf russischer Erde leben und in Russlands Kriegen sterben. Plötzlich fragt er mich: "Ich habe verstanden das du ... von Deutschland kommst, aber du sprichst nicht schlecht Russisch, wer bist du eigentlich?". Ich bin mir sicher er meint meine Ethnie, aber die Art wie er mir die Frage gestellt hat, veranlasst mich seine Frage direkter zu beantworten „Ich, ... bin eigentlich Kiril.“ Denn einfach zusagen ich bin Deutsch würde nicht wirklich stimmen. Ich komme zwar tatsächlich gerade aus Deutschland, doch würden mich die wenigsten in Deutschland als deutsch betrachten, nicht mit meinem russischen Namen. Bin ich also russisch? Auch nicht wirklich, ich bin zwar russischsprachig aufgewachsen, aber in Lettland zur Welt gekommen und kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in Russland war. Bin ich also lettisch? Das am wenigsten. Zu diesem Land pflege ich eine bedachte Distanz, wegen der Diskriminierung, die meine Familie dort aufgrund ihres jüdischen und russischsprachigen Hintergrundes erfahren musste und weshalb wir wiederum nach Deutschland kamen. Denn selbst heute noch finden dort jährlich Gedenkmärsche für die lettische Waffen-SS statt. Meine Familiengeschichte ist kompliziert. Sie auf eine Sache zu reduzieren wäre unsensibel gegenüber den Herausforderungen, mit denen auf Grund ihrer verschiedenen Identitäten, kämpfen musste. Die Frage nach der Herkunft eines Menschen, entspringt oft dem Verlangen unsere Neugierde zu stillen, unsere Vorstellungen/Vorurteile zu bestätigen oder in der falschen Hoffnung sich dadurch ein besseres Bild über die Person malen zu können. Doch passiert oft das Gegenteil. Wir hören ein Puzzleteil ihrer Geschichte, ein Bruchstück ihrer Identität und schließen daraus auf das vollständige Gemälde einer facettenreichen Persönlichkeit. Wir sehen eine Seite und schließen daraus auf das gesamte Buch. Wir kategorisieren sie als die Anderen/Fremden und stellen dadurch ihre Identität und ihr Zugehörigkeitsgefühl in Frage. Meinem Fahrer unterstelle ich allerdings hier keine böse Absicht, dies hier ist ein anderer Kontext als in Deutschland, wo ich mich regelmäßig solchen Fragen stellen muss. Also erkläre ich ihm in einer kurzen Zusammenfassung meine Familiengeschichte. Verstecken will ich sie auch nicht. Wir wechseln das Thema. Bei der Frage welchen europäischen Fußballklub er feiert, entfacht sich ein kleines Feuer in seinen Augen. Wir unterhalten uns über den guten deutschen Fußball und das Missmanagement der russischen Nationalmannschaft, den wunderschönen Kaukasus und das wohlhabende Europa. Im Radio läuft russischer Folk/Pop, der mich an russische Silvesterfeiern erinnert, bei denen ich solche Musik immer im Hintergrund höre und welche nur von der Ansprache des Präsidenten unterbrochen wird, bevor das Essen, Trinken und Tanzen weitergeht. Die Lieder erzählen von wunderschönen Abenden in den Moskauer Vorstädten, wie Liebe die Welt rettet und ja auch über das letzte Schnapsglas mit Vodka auf dem Tisch. Ich schaue den Rest der Fahrt einfach nur aus dem Fenster, höre mir bekannte und mir bedeutsame Lieder über Schicksal und Liebe, über Sehnsucht und Schwermut an und versinke in einem Meer der Erinnerungen. Nach einer langen Fahrt setzte er mich vor meinem Wohnheim ab. Wir tauschten einen festen Händedruck und Nummern aus, falls ich wieder einen Fahrer bräuchte oder Dagestan besuchen will. Ein warmes Lächeln und nette Worte besiegeln unseren Abschied und meine Ankunft in Russland. Er fährt weg, ich schaue hinterher und verstehe, dass es nie der Staat Russland war, der mich anzog. Es sind die Menschen, die kulturellen Eigenheiten und Schätze, die mich an dieses Land binden. Und ich bin dankbar, dass ich diese nie verloren hatte, egal wie oft ich mir wünschte, einfach nur dazuzugehören und nicht die zusätzliche Arbeit tun zu müssen, die man benötigt, um zwei Kulturen am Leben zu halten und mit sich zu tragen. Denn jetzt tragen diese Kulturen mich und öffnen mir Türen zu Menschen, Erfahrungen und kostbaren Erinnerungen.


Was hat mich besonders inspiriert hat: Menschen, Kultur, Austausch


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