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  • AutorenbildTalent im Land Alumni e.V.

Über Grenzen – Ge(h)danken einer Pilgerreise

Von Hannah | Reiseziel: Jakobsweg


„Bom Caminho“ rief mir eine ältere Dame freudestrahlend entgegen, als sie mich auf der anderen Straßenseite entdeckte. „Obrigada“ entgegnete ich ihr freundlich und fragte „Barcelos?“. Mein Tagesziel am dritten Tag. Sie wedelt mit ihrer Hand und signalisierte mir, dass ich immer weiter geradeaus laufen sollte. Ich bin etwas von meinem Weg abgekommen und konnte mich nicht mehr an den bekannten Wegweisern des Jakobwegs orientieren. Ich befand mich in Mitten eines kleinen portugiesischen Dorfs, ca. 50km von meinem Startpunkt Porto entfernt, ca. zehn Kilometer von meinem Tagesziel. Ich war umgeben von blühenden Rapsfeldern und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Es war Anfang März und angenehm warm zum Pilgern. Ich streifte Wiesen, Steinhäuser, einige Weiden und kleine Wälder mit Pinienbäumen, lief an kleinen Flüssen entlang und manchmal durchquerte ich ein Städtchen, begleitet von kleinen Regenschauern und Sonnenschein.


Ich traf vereinzelnd Pilger und Pilgerinnen und wir grüßten uns ebenfalls mit „Bom Caminho“. Ich lernte schnell, dass das die Grußformel unter Pilgernden ist und wir uns damit einen guten Weg wünschten. Langsam verschwand die idyllische Landschaft hinter mir und damit auch die Ruhe um mich. Mir begegneten immer mehr Menschen und Autos. Ich näherte mich meinem Tagesziel nach 16km: Barcelos. Als ich mir das kleine Städtchen anschaute und auf die Uhr blickte, entschied ich mich, weiterzulaufen. Die Herbergen hatten noch geschlossen und meine Füße hatten noch Kraft. Ich folgte weiter den blauen Tafeln mit einer gelben Jakobsmuschel in der Mitte und nach weiteren sieben Kilometer und einem Berg später stand ich vor der Herberge.


Unterwegs hatte ich noch im Supermarkt Nudeln und Tomatensoße fürs Abendessen und Wasser für den nächsten Tag besorgt. Ein älterer Herr, der gerade dabei war die reifen Orangen zu pflücken wank mich zu sich und gestikulierte mir, dass ich mich an den Orangen bedienen soll. Wir kommunizierten mit Händen und Füßen mit einzelnen Wörtern portugiesisch und auch er wünschte mir ein „Bom Caminho“.

In der Herberge angekommen begegnete ich meiner Weggefährtin, welche ich am ersten Tag kennenlernte. Wir entschieden uns an diesem Morgen dazu, alleine loszuziehen. Wir wussten beide jedoch nicht, wohin unser Weg heute führt. Die Freude war groß über dieses ungeplante Zusammentreffen und trotz dessen, dass wir beide den Weg alleine laufen wollte war von dem Moment an klar, dass wir die restlichen Tage gemeinsam laufen werden. Jeder unserer Tage auf dem Jakobsweg starteten gleich und doch so anders. Die Sonne stand meist noch tief am Horizont als wir uns auf den Weg machten. Wir zogen uns an, putzten unsere Zähne, packten die Rucksäcke zusammen, zogen die Wanderschuhe an und liefen los. Ohne zu wissen was dieser Tag für uns bereit hielt. Wir wussten nicht, wo wir abends schlafen werden. Wir ließen uns treiben und lief einfach. Unser Tage des Pilgerns waren gefüllt mich Lachen und Weinen, Schweigen und tiefgründigen Gesprächen. Wir genossen das Hier und Jetzt. Jeder Tag war gefüllt mit weiteren Begegnungen und interessanten und inspirierenden Personen. An Tag 5 erreichten wir unseren Rekord. Wir liefen 32km und waren somit vor der spanischen Grenze angekommen.

Ich spürte zunehmend wie ich mich erdete und Ruhe in mein Inneres einkehrte. Wie all die Anspannung der letzten Wochen von mir losließ. Ich hatte meine eigenen Grenzen überschritten. Mein Körper signalisierte mir zuvor: ‚battery low‘ wie es normalerweise nur aus meiner Musikbox tönt, wenn sie mir sagen möchte, dass sie doch bitte an die Steckdose angesteckt werden möchte, um weiterhin funktionieren zu können. Ich hatte das Gefühl ausbrechen zu müssen. Weg von allem. Alleine sein. Es fühlte sich an, als wäre die Zeit reif gewesen für ein neues Abenteuer. Aus dem Nichts kam mir die Idee, für welche ich voller Begeisterung war. Pilgern. Ohne einen Glauben an Gott. Dafür aber in mich. Zwei Wochen hatte ich Zeit dafür, bevor mich der Alltag wieder hatte. Fragen, ob alleine pilgern (und das dann noch als Frau) nicht gefährlich und langweilig sei und ob ich mich damit nicht übernommen hätte, berührten mich nicht. Naiv könnte man meinen. Ich hätte genauso gut ans Meer fahren können, so die Gegenvorschläge. Doch, wo wäre da der Reiz gewesen, Grenzen als etwas positives kennenlernen zu dürfen. Dinge zu wagen, die man sich selbst vielleicht nicht zugetraut hätte, einfach „weil man es noch nie gemacht hat“?


260km, 10 Tage, 4 Blasen und 30 Stempel später hatte ich das Ziel mit meiner Weggefährtin erreicht: Santiago de Compostela, DER spanische Pilgerort. Ich dachte das Gefühl sei überwältigender, denn schließlich soll es DAS Ziel der Reise gewesen sein. Das Ziel, an dem alle Pilger von den verschiedenen Jakobswegrouten ankommen. Und doch merkte ich, dass das eigentliche Ziel die vergangenen Tage für mich waren. Da waren sprachliche Grenzen. Da waren gesellschaftliche Grenzen. Da waren Landesgrenzen. Da waren meine eigenen Grenzen. Aber da waren auch Möglichkeiten. Mit Menschen in Kontakt zu kommen, Menschen kennenzulernen, dankbar dafür sein, dass wir Grenzen zwischen zwei Ländern passieren können, Grenzen austesten und als Beispiel voran zugehen, dass alleine unterwegs zu sein, nichts ist, wofür man sich schämen sollte oder gar Angst haben muss. Das es wichtig ist, Wege zu gehen, welche unbekannt sind und Grenzen Möglichkeiten enthalten, über sich hinauszuwachsen. Der Weg hat mir nicht das gegeben was ich wollte, sondern gab mir das, was ich so dringend brauchte.


Reisen bedeutet für mich erleben, erzählen, genießen und begegnen. Reisen bedeutet für mich aber auch Inne zu halten, Achtsamkeit und Dankbarkeit. Für diese Möglichkeit über Grenzen gehen zu können.




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